Gestern Abend sah ich mir mit einer gehörlosen Freundin und ihrem hörenden Ehemann den Film "The Ides of March" an - das Date mit George Clooney und Ryan Gosling war barrierefrei, denn der Film wurde auf OMU (Original mit Untertitel) gezeigt.
Auf Twitter schrieb ich dann dazu, dass der Film toll ist und ich mich nicht entscheiden kann, wen ich sexier finde: Georges Lippen oder Ryans Augen.
Am Ende des Films liess ich dann verlauten, dass die echte Stimme von George-Boy ja so unverschämt sexy ist. Kurz darauf fiel mir dann ein, dass man mich ja für ein Fake halten könnte, weil ich als Gehörlose meiner Timeline vorschwärme, wie sexy die Stimme ist. Neulich hat man mich ja auch für ein Fake gehalten, weil ich das Wort "hören" im Bezug auf mich selbst verwendet habe - übrigens völlig zu recht, wie ich finde. Den Blogeintrag dazu findet man hier:
Was man halt so sagt - Teil 2 Extrem zusammengefasst: Warum soll ich nicht auch ein Wort wie jeder andere auch verwenden dürfen, auch wenn ich biologisch gesehen dazu nicht in der Lage bin?
Meine Erklärung zur der sexy Stimme von George war dann, dass ich ein
Cochlear Implantat habe und damit hören kann. Und mir war klar, dass für die "Hörenden" "hören" gleichgesetzt wird mit "verstehen.", denn ich wurde dann gefragt, warum ich dann Untertitel brauche bzw. für Untertitel bin, wenn ich doch ein Cochlear Implantat habe? Aber dazu gleich mehr.
Daraus hat sich dann eine Diskussion auf Twitter entwickelt über das Cochlear Implantat für Gehörlose und die ganze Bionik drumherum.
Die Szene des Filmes beginnt übrigens damit, dass Ryan eine Mikroprobe für George macht: "Ich bin kein Christ, kein Jude, kein Moslem. Ich bin nicht besonders gläubig. Meine Religion ist die Verfassung von Amerika. Daran glaube ich!" (Das ist jetzt nicht wortwörtlich zitiert, aber so in etwa ging der Satz.)
Und gestern Abend um Mitternacht entspann sich auf Twitter eine Diskussion mit Enno Park, @ennomane, der als frisch beidseitiger Versorgter mit dem Cochlear Implantat natürlich vollstens dahinter steht und die Bionik für unverzichtbar hält.
Und ich denke, dass ich als Cyborg selbst ganz gut über die Bionik informieren kann, was Gehörlose und Schwerhörige betrifft, denn ich habe selbst ein Cochlear Implantat, was bedeutet, dass ich da einfach weiß wovon ich rede und die beiden Seiten der Medaille am eigenen Leib kenne.
Ich war 11, als meine Familie von den Möglichkeiten des Cochlear Implantats erfahren hat und wir zur Voruntersuchung nach Hannover fuhren. An die lange Autofahrt im Peugeot meiner Tante kann ich mich noch erinnern, denn mit meiner mickerigen Körpergröße, von der ich heute nur ein paar mickerigen cm mehr habe, passte ich genau auf die Rückbank des Peugeots und konnte dort ausgestreckt schlafen. Irgendwann vor Hannover bemerkte meine Tante, dass ich im Schlaf laut gelacht habe. Etwas, was heute noch sehr typisch ist für mich - ich lache oder rede oft im Schlaf.
Dann bei der Visite saß ich da umgeben von diversen Professoren, auch vom besagten Dr. Lenarz und er stellte mir die Frage: "Kannst du dir vorstellen, ein Cochlear Implantat zu kriegen und damit hören zu können?" Mit meiner teenagerhaften Lässigkeit sagte ich also: "Eventuell schon." Und damit löste ich Fassungslosigkeit aus bei ihm: "Also, das ist erstaunlich. Ich habe noch nie von einer Gehörlose "eventuell schon" gehört." Er wendete sich an meine Mutter: "Sie ist wirklich von Geburt an gehörlos?" Bumm - da war es passiert, etwas was ich noch sehr oft in meinem Leben erleben würde, nämlich, dass man über mich redet, als wäre ich gar nicht mit dabei im Raum. Die Frage hätte er mir selbst auch ruhig stellen können, finde ich und nicht über meinen Kopf hinweg. Die Bestätigung kam von meiner Mutter. "Und woher kennt sie solche Fremdwörter, die ja unüblich für Gehörlose sind?" Ich meldete mich zu Wort: "Ich lese viel." "Ach, was liest du denn so?" "Bin grad fertig geworden mit "Sophies Welt" von Joostein Gaarder." "So ein dickes Buch liest du?" "Ja, warum sollte ich kein dickes Buch lesen? Es ist doch völlig wurscht, ob ein Buch dick oder dünn ist - die Geschichte muss gut sein."
Nun ja, ich hinterließ also Eindruck da bei der versammelten Ärzteschaft, die wiederum aber gar keinen bei mir. Das war dann irgendwann im April 1993. Ich erinnere mich noch gut an eine junge Mutter namens Pia und ihrem ungefähr 4 Jahre alten gehörlosen Sohn Niklas, die dann auch bei der Voruntersuchung waren und mit uns auf dem Zimmer waren. Soviel ich weiß, wurde er ziemlich schnell nach der erfolgreichen Voruntersuchung implantiert - vom Hörerfolg damit weiß ich nichts. Aber wahrscheinlich ganz gut, denn er war, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, nicht von Geburt an gehörlos, sondern hat Mumps oder Masern gehabt und ertaubte daran.
Ich liess mir aber noch Zeit mit allem - wie gesagt, ich war völlig unbeeindruckt von der Vorstellung hören zu können, weil es mir damals wie heute nichts bedeutet, obwohl ich in der hörenden Welt aufgewachsen bin und zur dieser Zeit erst seit 2 Jahre in eine Schwerhörigenschule ging. Die Umstellung auf die Schwerhörigenschule war für mich ein kleiner Kulturschock aufgrund der Tatsache, dass die Klassen so klein waren, es waren nur 12 Kinder in einer Klasse und ich war aber an meine 32 Mitschüler gewohnt, was ich auch meiner Mutter vorjammerte: "Die Klasse ist so klein, das ist keine echte Schule." "Du wirst dich noch daran gewöhnen. Es ist schön hier." Das stimmte wirklich, denn die Schwerhörigenschule in München-Johanneskirchen war damals ein ganz neuer Bau und sieht heute noch ganz modern aus. Viel Glas, viel Licht.
Es folgen lange Diskussionen innerhalb der Familie und Diskussionen mit mir über das Cochlear Implantat und mir blieb diese ganze Aufregung in der Familie drumherum sehr fremd, die Wichtigkeit der Hörfähigkeit war sowas von weit weg von mir, denn für mich war meine Gehörlosigkeit nichts, was für mich wichtig war. Und ich sträubte mich gegen die Operation: "Nee, warum soll ich mich operieren lassen? Mir geht's gut so wie ich bin." Und steckte dann die Nase in ein Buch und damit war für mich die Diskussion beendet. Nicht aber für meine Familie. Einmal flüchtete ich mit einem Buch vor dieser Diskussion ins Büro von meinem Opa und schob den Ledersessel ans Fenster, damit ich meine Beine auf das Fensterbrett legen konnte und mich weit im Ledersessel zurücklehnen konnte zum entspannten Lesen. Doch die himmlische Ruhe währte nicht lange, denn der Ledersessel wurde um 180 Grad gedreht und ich blickte ins Gesicht meiner Tante, die mir sagte: "Ich verstehe dich nicht. Du hast diese Chance und du ergreifst sie nicht." "Ich will mich nicht operieren lassen, okay?" Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, standen auch schon die anderen Tanten im Raum und auf ihren Gesichten war "WARUM?" zu lesen.
"Nun, wenn ich im Rollstuhl sitzen würde und es gäbe eine Operation durch die ich wieder laufen könnte, dann würde ich das machen!" Ich entgegnete scharf: "Das kannst du nicht damit vergleichen." "Warum nicht?" "Laufen ist ein Automatismus. Du übst die Schritte so lange, bis du es kannst und dann läuft selbst ab. Aber Hören ist viel komplizierter." "Aber du könntest dann etwas, was du davor nicht konntest." "Wer sagt das, das ich das können werde?" "Die Ärzte." "Und weil sie das sagen, wird es so sein?" "Wenn du dich operieren lässt, ja.".
Ich steckte mit dem Buch grad in einem sehr spannenden Kapitel fest und ahnte, dass ich keine Ruhe zum Lesen haben würde, wenn ich weiterhin "Nein!" sagen würde und sagte "Ich denke darüber nach. Kann ich jetzt weiterlesen?" Das wurde mir dann gewährt und ich konnte mein Buch zu Ende lesen.
Wie es dann doch dazu kam, dass ich am 07.Oktober 1994 implantiert wurde? Nun, das ist eine Sache zwischen mir und meiner Familie, die in der Familie bleibt und es war nicht meine freie Entscheidung, sondern ich wurde dazu überredet. Womit - Familiensache.
Der Druck da ist der Wahnsinn gewesen. Und das ist das, womit Deutschland ein Problem hat - Gehörlosigkeit oder andere Formen der Behinderung werden als Makel angesehen und man versucht sie durch die Bionik auszurotten, anstatt Barrierefreiheit für und gleiche Bildungspolitik für Gehörlose und andere Formen der Behinderung auf den Weg zu bringen.
Und ich bin nicht besonders gläubig. Ich bin weder Christ, Moslem oder Jude. Das einzige, woran ich glaube ist, ist ein Stück Papier und das ist die UN-Behindertenrechtskonvention und die darin beschriebene Barrierefreiheit und Inklusion. Ich glaube an die Bereicherung durch eine lebendige Vielfalt durch eine barrierefreie und inklusive Gesellschaft.
Das wäre das, was ich sagen würde, wenn ich für ein politisches Amt kandidieren würde, denn das ist meine Überzeugung aus tiefstem Herzen.
Und ich bin nicht gegen Bionik, nur gegen den Zwang zum perfekten Menschen, denn diese Haltung ist diskriminierend, denn warum MUSS ich alle 6 Sinne haben, um ein vollwertiger Mensch zu sein und den gleichwertigen Zugang zur Gesellschaft zu haben?
Nun, das war mein Vorbericht zur Bionik. Der Rest folgt morgen.